Prognosen, Gerüchte und Propaganda kreisen um die Streitthemen Mindestlohn und Mindestrente. Die aktuelle Forschung auf diesem Gebiet zeigt, dass ein Mindestlohn keine Arbeitsplätze kostet und eine Mindestrente aufgrund einer neuen Massenarmut im Alter längst überfällig ist. Nach den Hartz-Reformen mit der Einführung einer reinen Grundsicherung auch für bisher Erwerbstätige, die arbeitslos werden, kam es zu einem radikalen Ausbau des Niedriglohnsektors in Deutschland, der nun zu den Größten in Europa gehört und amerikanischen Verhältnissen gleicht. Dass nun auch ein Großteil der Vollzeit-Erwerbstätigen auf aufstockendes Hartz IV angewiesen ist, ist das Ergebnis. Dazu kommt, dass Deutschland als eines der letzten Länder in Europa noch keinen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn hat. Das häufig angeführte Argument, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten und somit die Arbeitslosigkeit noch verschärfen, wird von Gerhard Bosch, Präsident des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen, nicht bestätigt. Er sieht die Beschäftigung von Erwachsenen nicht beeinträchtigt und auch geringe Risiken bei Jugendlichen. Leider wird bei schlechter Konjunktur in vielen Betrieben der Tariflohn auch dadurch umgangen, dass die Arbeitenden zur informellen Ausdehnung ihrer Arbeitszeit gezwungen werden. Das ist vor allem in kleineren Betrieben gängig und steht natürlich auch beim Mindestlohn als Gefahr im Hintergrund. Ein Mindestlohn kann deshalb nur ein Zwischenschritt zu einer deutlichen Erhöhung der Kaufkraft in Deutschland sein, die seit 15 Jahren stagniert. Immer wieder empörend ist, wie einige Lobbyisten wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) Behauptungen aufstellen, die sie nicht ausführlich begründen, wie etwa, dass bei einem Mindestlohn von 7, 50 Euro eine Verteuerung der Waren um 40 Prozent zu erwarten sei. Der DGB kommt hingegen in einer Studie von 2008 zu dem Ergebnis, dass sich ein flächendeckender Mindestlohn zu einer wahren Beschäftigungsmaschine entwickeln kann, und bietet damit eine deutliche Gegenstudie an. Auch die bisherigen Mindestlöhne in den einzelnen Branchen haben laut Böckler-Stiftung zu keinem Jobverlust geführt. Ist es nicht viel eher ein Skandal, dass inzwischen jeder vierte Deutsche nur einen Niedriglohn verdient (durchschnittlich 6,68 Euro pro Stunde in Westdeutschland)? Laut Böckler beziffern sich die staatlichen Einsparungen im Bereich der sozialen Transferleistungen auf knapp 2 Milliarden Euro, würde es einen Mindestlohn von 8,50 Euro geben. Jeder, der für einen ausgeglichenen Haushalt plädiert, müsste also Anhänger eines Mindestlohns sein. Die Zahl zeigt aber auch, in welch hohem Ausmaß der Staat hier eine zentrale Aufgabe übernimmt, für die eigentlich die Marktwirtschaft zuständig sein müsste, nämlich für den Lebensunterhalt ihrer ArbeitnehmerInnen zu sorgen. Auch die Mindestrente kann nur ein Zwischenschritt auf dem Weg dahin sein, die gesetzliche Rentenversicherung wieder auf sichere Füße zu stellen. Laut Focus leben bereits jetzt knapp eine halbe Million Rentner in Altersarmut und beziehen Grundsicherung. Bei Altersarmut denkt die öffentliche Diskussion immer an eine Folge der gesellschaftlichen Alterung. Das vergangene Jahrhundert zeigt allerdings, dass diese Entwicklung nicht zwangsläufig ist: Die Lebenserwartung stieg in Deutschland von 1900 bis 2000 um über 30 Jahre, der Anteil der Über-65-Jährigen stieg von unter 5 auf über 17 Prozent und zugleich halbierte sich der Anteil der Jugendlichen. In dieser Zeit nahm die Altersarmut nicht zu, sondern sank deutlich. Der Wohlstand der Erwerbstätigen stieg deutlich – ungeachtet kürzerer Arbeitszeiten. Fazit: Die Altersarmut heute ist nicht Folge einer demografischen Entwicklung, sondern einer sozialen Umverteilung von unten nach oben. Auch deswegen ist sie überfällig: die Mindestrente. David Klanke
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