BAmberger Thema

Im Lager der Hoffnungslosigkeit 26.10.2015
Soziales, Aktuelles, BA-Thema, Konversion, Sylvia Schaible
Vor Ort ist das System ARE (Aufnahme- und
Rückführungseinrichtung) schwer auszuhalten.
Bei einem Besuch der grünen Landtagsabge-
ordneten Christl Kamm sprachen Flüchtlinge
über ihre Schicksale. Ein persönlicher Bericht,
was passiert, wenn die Lager-Abschottung Risse bekommt.

Eindrücke

Freitag, 9.30 Uhr, Ortstermin in der ARE – der Aufnahme- und Rückführungseinrichtung für Balkanflüchtlinge auf dem Bamberger Konversionsgelände. Die grüne Landtagsabgeordnete Christl Kamm ist zu Besuch, sie will sich die Einrichtung ansehen, denn es gibt massive Kritik von Seiten derer, die schon ein bisschen hineinschnuppern konnten in das System „Abschiebelager“.

Der Zugang geht natürlich nur mit Anmeldung. Wir (vor allem Leute aus der GAL, von „Freund statt fremd“, Stadträtin Ursula Sowa sowie eine weitere CSU-Stadträtin, die Mitglied im ARE-Ombudsteam ist) werden von mehreren Vertretern der Regierung von Oberfranken empfangen, Security begleitet uns auf dem Gelände.

Die Offiziellen führen ihre Gäste durch die Einrichtung, zeigen Kantine, Behördenräume, Wohnhäuser usw. Nach dieser Führung wollen wir mit Flüchtlingen direkt ins Gespräch kommen, meine Aufgabe ist es, Flüchtlinge im Lager dafür zu gewinnen. Begleitet werde ich von einem jungen Kosovaren, Arafat. Er wohnt nicht hier, sondern in einer anderen Gemeinschaftsunterkunft in Bamberg. Er spricht serbisch, albanisch und beachtlich gut deutsch. Als Kind hat er schon einmal ein Jahr hier gelebt. Jetzt hofft er mit seiner schwangeren Frau und seiner kleinen Tochter auf eine Zukunft in Deutschland. Mit dem „sicheren Herkunftsstaat“ Kosovo im Hintergrund hat er dafür keine guten Chancen.

Bei unserem heutigen Vorhaben ist er eine ausgesprochen wertvolle Hilfe. Arafat und ich marschieren schnurstracks auf eine Gruppe Menschen am Straßenrand zu. Sofort kommt ein „Halt! Wo wollen Sie hin?“ von hinten. Security hält uns auf, weil wir uns von der Besuchergruppe entfernen wollen. Ich erkläre: „Nur mit den Leuten dort hinten reden.“ So einfach geht das aber offensichtlich nicht. Von offizieller Seite bekommen wir Erlaubnis zum Gespräch, eine Security-Frau muss uns begleiten.

Die Menschen blicken uns erstaunt an, als wir auf sie zugehen und Guten Morgen sagen. Arafat erklärt, wer wir sind und was wir wollen. Sie sind überrascht, dass überhaupt jemand sich für sie interessiert. Kein Wunder, denn Nicht-Insassen dürfen das Lager nicht betreten, erklärt die Security-Frau.

Wir fragen nach Problemen – und sehr schnell kommen die Leute auf den Punkt und berichten aufgeregt, manchmal durcheinander. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Sie klagen, dass man sich bei der Anhörung im Asylverfahren nicht wirklich für sie interessiert. Dass es eigentlich völlig egal sei, was man für ein Schicksal schildert. Dass viele schon eine Viertel Stunde nach dem Interview ihren Ablehnungsbescheid erhielten. Dass sie gedrängt würden, eine freiwillige Rückkehrerklärung zu unterzeichnen. Von Druck ist die Rede.

Man merkt, dass sie die Vorgänge eigentlich gar nicht richtig verstehen. Sie fragen, was das denn eigentlich hier sei? Ob sie verlegt würden oder hier bleiben müssten? Sie erzählen von der Abschiebung einer Familie in der letzten Nacht. Um vier Uhr sei die Polizei gekommen und habe die Leute abgeholt. Das Erlebnis wirkt sichtlich nach bei den Nachbarn und Wohnungsgenossen der Familie. Mit welchen Gedanken sie wohl nachts einschlafen?

Eine alte Frau kommt hinzu, mit vom Weinen verzerrtem Gesicht. Sie ist 70 Jahre alt und kam mit ihrem Sohn und dessen Familie hierher. Allen wurde der Asylantrag negativ beschieden, der Oma bescheinigte man jedoch krankheitsbedingt die Reiseunfähigkeit. Vor drei Tagen wurden Sohn, Schwiegertochter und Kinder abgeschoben. Nun ist sie alleine und verzweifelt. Ihr Sohn, so sagt sie, versteckt sich im Wald in Albanien. Sein Fluchtgrund war Blutrache, er fürchtet um sein Leben. Ihre Augen schwimmen von Tränen.

Einige der Leute sagen ganz offen, dass sie nicht wegen Verfolgung nach Deutschland gekommen sind, sondern weil sie zuhause ihre Familien nicht mehr ernähren können. Sie schildern schreckliche Zustände in ihren Heimatorten. Sie wollen kein politisches Asyl, sie wollen Arbeit und eine Zukunft für ihre Familie. Zuhause bekämen sie keine Arbeit und so gut wie keine Sozialhilfe. Dabei hält einer sein kleines Kind auf dem Arm, ein anderer kleiner rotznasiger Junge zieht immer wieder an der Hose seines Vaters.

Von hinten nähert sich ein Mann mit verkrüppelten Beinen im Rollstuhl unserer Gruppe. Wir öffnen den Kreis. Er sagt, dass er hier das erste Mal in seinem Leben in einem Rollstuhl sitzt. Fünfzig Jahre lange habe er praktisch nur zuhause rum gelegen und war nie draußen, übersetzt Arafat. Als Kind habe seine Mutter ihn zwei Jahre lang in die Schule getragen, dann ging das nicht mehr.

Doch nicht nur die Flucht vor Armut treibt die Menschen hierher. Mehrere Albaner berichten von staatlicher Willkür, von Korruption, von Drogen- und Menschenhandel, von Knast, weil man die Stromrechnung nicht bezahlt hat, von Arbeitsverlust, weil man dem Regime nicht passt. Ich kann nicht beurteilen, ob und inwieweit all diese Geschichten authentisch sind. Echt ist die Verzweiflung in den Gesichtern dieser Menschen in jedem Fall, die Angst vor der Zukunft, die drückende Verantwortung für Gedeihen und Gesundheit ihrer Kinder.

„Wie könnt ihr Albanien als sicheres Herkunftsland bezeichnen?“ fragen sie, „das ist es einfach nicht.“ Und: „Warum wollt ihr unsere Geschichte gar nicht hören, warum gebt ihr uns keine Chance? Was wird denn jetzt aus uns?“ Ich stehe da, umringt von fragenden, fordernden, um Zukunftsaussichten ringenden Augen – und kann nichts tun. Außer ihnen die Wahrheit sagen: „Ihr seid hier in dieser Einrichtung, um schnellstmöglich wieder aus Deutschland weggebracht zu werden. Der Staat hat beschlossen, euch von vorneherein als nicht asylberechtigt einzustufen. Ihr habt keine Chance auf Arbeit.“ Und ich schicke ein klägliches „Es tut mir leid“ hinterher. Die Menschen schütteln resigniert den Kopf und sagen Danke zu mir. Danke - genau das habe ich, hat Deutschland von ihnen sicher nicht verdient.

Alle meine Gesprächspartner kommen dennoch mit zu dem Gespräch mit MdL Christl Kamm in die Kantine, erzählen ihre Geschichte noch einmal. Berichten auch von ein paar Problemen in der Einrichtung wie etwa viel zu dünne Decken, so dass sie in ihren Betten frieren müssen, Probleme mit Essen für Kleinkinder, bei der Belegung der Zimmer usw.. Auch für dieses Gespräch bedanken sie sich. Es ist ganz offensichtlich noch kaum oder gar nicht vorgekommen, dass sie jemand fragt, wie es ihnen hier in der ARE geht.

Als die Essensausgabe beginnt, verlassen wir die Kantine, Christl Kamm muss zurück zum Zug nach München, unsere Besuchergruppe löst sich auf. Aber ich und Arafat werden wieder alle paar Meter aufgehalten. Eine Frau aus dem Kosovo fragt, ob sie nicht bei ihrem Bruder leben kann, der schon seit vielen Jahren in Deutschland lebt, allerdings hat sie acht Kinder, eines davon wurde vergewaltigt und ist jetzt traumatisiert. Man mag sich gar nicht vorstellen, aus welchen Zuständen sie kommt. Sie spricht nahezu perfekt deutsch, ist in den 90er Jahren selbst als Flüchtlingskind hier aufgewachsen. Kann man ihr verdenken, dass sie hier ihr Heil sucht? Sie fragt, ob sie sich – obwohl sie hier in der ARE leben muss – einen Rechtsanwalt nehmen darf. „Ja, natürlich“, sage ich und denke mir, wie uninformiert die Menschen hier doch gehalten werden, es gehört wohl zum System. Ob sie eine Chance hat?

Ein junger Mann, der gut Englisch spricht und schon ein Jobangebot in der Tasche hat, fragt danach, was er nun machen muss. Doch ich weiß, dass er mit dem neuen Asylgesetz definitiv keine Arbeitserlaubnis kriegt, denn er kommt aus einem so genannten „sicheren Herkunftsstaat“. Mehr fällt uns dazu nicht ein. Es ist niederschmetternd. Der junge Mann bedankt sich ebenfalls freundlich und stellt sich dann traurig in die Warteschlange der Essensausgabe.

Es ist jetzt auch für mich genug. Ich kann nicht mehr. Ich winke Arafat herbei und wir steuern schnell dem alten Army-Gate zu, heraus aus diesem Lager der Hoffnungslosigkeit. Mein tapferer Begleiter und ich steigen erschöpft in den nächsten Stadtbus Richtung Innenstadt. Wir stieren nur vor uns hin. Uns beiden fehlen die Worte. Als er sich verabschiedet und mir die Hand gibt, danke ich ihm noch einmal von Herzen für seine Dolmetscherdienste. Was wohl aus ihm wird …?

Ich verdränge den Gedanken und fahre weiter nach Hause – in mein sattes, sicheres und so unverdientes schönes Zuhause.

Sylvia Schaible


Gespräch mit Flüchtlingen in der Kantine. MdL Christl Kamm ganz rechts mit dunkelroter Jacke.


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