Warum die Architektur einen Paradigmenwechsel braucht Gastbeitrag von Martin Düchs und Christian Illies „Ich meine, dass wir heute keine Lehre vom Schönen in der Architektur benötigen“, meint der große Architekt Frei Otto, und so denkt die heutige Architektur. Beim Bauen geht es um Funktion, ökologische und soziale Anliegen, und die sind brennend: Mehr als die Hälfte der in den USA genutzten Energie wird direkt oder indirekt für die gebaute Umwelt verbraucht (2004 waren es 54%). Und 2,5 Milliarden Menschen haben laut WHO keinen Zugang zu sauberen Toiletten. Es ist ein ethisches Gebot, dass Gebäude ökologisch sind und die elementaren Grundbedürfnisse befriedigen. Architektur ist wichtig für das Wohlergehen der Menschen. Das wusste schon die frühe Architektur-Moderne, wie z.B. Le Corbusier oder Mies van der Rohe: „Licht, Luft und Sonne!“ war ihr Slogan. Das Bemühen um eine im klassischen Sinn schöne Architektur wurde dabei in der Regel als dekadenter und unsozialer Luxus gesehen. Gebäude sollten schmucklos, schlicht und funktional sein. Gelegentlich wurde zwar auch Schönheit gefordert, wie in der Charta von Athen der CIAM („jedem Individuum müssen die fundamentalen Freuden zugängig sein: die Behaglichkeit des Heims, die Schönheit der Stadt …“). Aber ästhetische Qualität, so meinte man, stelle sich von selbst ein, wenn Gebäude nur ganz aus der Konstruktion entwickelt würden. Adolf Loos, der Urvater der Moderne, schrieb 1908 seinen Aufsatz „Ornament und Verbrechen“, in dem aller Zierrat verdammt wurde. Die Standard-Architektur der letzten Jahrzehnte war in diesem Sinne funktional und günstig, hygienisch und zunehmend nachhaltig. Aber sie war selten „schön“, sondern eher banal und langweilig. Und viele Menschen empfinden das so und klagen über Betonklötze, hässliche Einheitlichkeit, Monotonie und verschandelte Landschaften. Denn das Bedürfnis nach Schönheit bleibt, wie auch eine allgemein geteilte Vorstellung davon, was schön ist. Hunderttausende ziehen jährlich durch die Innenstadt Bambergs und sind begeistert („Ist das schön hier!“), aber kaum jemand besucht Bochum wegen seiner Nachkriegsarchitektur. Schönheit ist das entscheidende Kriterium zur Beurteilung von Architektur bei Laien. Dass ein Haus „schön“ sei, ist das höchste der Gefühle. Aber wie ganz anders bei Architekten! In Fachdiskussionen ist der Begriff „Schönheit“ fast ein Tabu. Fragt man einen Architekten, ob er „schön“ bauen könne, so wird er seltsam blicken. „Was Schönheit ist, weiß ich nicht“ sagt er dann vielleicht, wenn er den so Fragenden angesichts von dessen Naivität überhaupt noch einer Antwort würdig hält. Nun gibt es nachvollziehbare Gründe, warum sich Architekten mit Schönheit heute schwer tun: Wir sind gegenwärtig wenig optimistisch, dass wir „schön“ überhaupt bestimmen können. Und Diskussionen über Schönheit scheinen sinnlos, weil das Schönheitsempfinden als subjektiv gilt, gemäß dem Motto „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“. Aber diese Einstellung gießt das Kind mit dem Bade aus: Denn auch wenn es keine endgültige und für alle Zeiten festgelegten Kriterien des Schönen gibt, können wir doch sehr wohl mehr oder weniger schöne, gelungene Bauwerke und Städte unterscheiden und darüber sinnvoll sprechen. Wir wissen recht gut was gelungen, aber vor allem misslungen und banal ist. Deswegen kann sich auch die Architektur dem Schönen in dem Sinne annähern, als es Baugestalten gibt, die eine positive Reaktion auch bei Laien hervorrufen – mögen sie auch in mancher Hinsicht einer bestimmten Zeit und Kultur verhaftet bleiben. Denn das Schönheitsempfinden ist nicht völlig subjektiv: Empirische Studien aus der Psychologie zeigen beispielsweise hohe Übereinstimmungen hinsichtlich der Urteile über die Schönheit menschlicher Gesichter oder Proportionen. Auch Bambergs Altstadt oder Pariser Plätze werden von sehr vielen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen als herausragend schön beurteilt. Wenn die Architektur wirklich für den Menschen baut (und das sogar eine ethische Forderung ist!), dann sollte sie sich deswegen wieder bewusst der Herausforderung nach einer schönen Formensprache stellen. Schönheit bleibt für Menschen ein elementares Bedürfnis. Statt mit Arroganz auf das tiefe Sehnen zu reagieren, das Touristenströme nach Bamberg treibt, aber auch Menschen den kitschig-lieblosen Erker aus dem Fertighauskatalog wählen lässt, sollte die Architektur es ernst nehmen. Das gilt gerade für die alltäglichen Bauwerke. Und zwar nicht indem der Architekt jeden Wunsch nach einem Alpenbalkongeländer befolgt, sondern indem Schönheit wieder als anspruchsvolle, vielleicht schwerste, aber auch lohnende Aufgabe begriffen wird. Die ursprünglich spätklassizistische Fassade des Wohnhauses in der Reichenbachstraße in München war zerstört. Bei der Neuinterpretation wurden überlieferte Materialität, Gliederung und Putztechniken in moderner Formensprache ausgeführt. Es ist ein zeitgenössischer Bau zu erkennen, der sich aber perfekt in die Umgebung einfügt. Foto: Martin Düchs Christian Illies ist seit 2008 -Professor für praktische Philosophie an der Universität Bamberg und arbeitet im Bereich Ethik, Anthropologie und Philosophie der Architektur. Martin Düchs ist Philosoph und Architekt und promovierte über die Ethik des Architekten. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Illies.
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