Degrowth – Aufbruch aus der Alternativlosigkeit
Die Suche nach dem Guten Leben: Warum wir träumen müssen um fündig zu werden Was verbindet Margaret Thatcher und Thomas Morus außer den Anfangsbuchstaben ihrer Namen und ihrer britischen Nationalität? Auf den ersten Blick relativ wenig! Erst bei genauerem Hinsehen ergibt sich eine interessante Verbindungslinie: Thomas Morus, englischer Staatsmann und Ritter, verfasste 1516 ein Buch mit dem Titel „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“, welches das Genre der Sozial-utopie begründete. Das Wort „Utopie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Nicht-Ort“ – ein Ort also, an dem sich gesellschaftliche Visionen in unserer Phantasie materialisieren können. Der Politikstil der britischen Premierministerin, Margaret Thatcher, war von einem völlig gegenläufigen, dem sogenannten TINA-Prinzip geleitet: There Is No Alternative! Die Rede von der Alternativlosigkeit prägt bis heute politische Debatten, vor allem aber wirtschaftspolitische Entscheidungen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte das Wort „alternativlos“ angesichts seiner inflationären Verwendung durch die Bundesregierung sogar zum Unwort des Jahres 2010. In den Ideen von Thomas Morus und Margaret Thatcher begegnen sich also zwei völlig diametrale Weltanschauungen. Während die eine getrieben ist von dem Ziel, eine alternative, potenziell gerechtere Gesellschaftsordnung zu entwerfen, fordert die andere absolute Akzeptanz für den Status Quo. Es gibt Alternativen zum Wachstum Spannend ist dieser Gegensatz aufgrund seiner Relevanz und Aktualität in der heutigen sozial-ökologischen Krise. Seit nunmehr Jahrzehnten (!) warnt die Wissenschaft vor den klimatischen, sozialen und ökologischen Folgen unseres CO2-basierten, wachstumsgetriebenen Wirtschaftssystems: steigende globale Ungleichheit, Biodiversitätsverlust, Klimawandel begegnen den Menschen zunehmend auch außerhalb medialer Berichterstattung. Trotz dieser realen Erfahrungen und dem Wissen um deren Verschärfung, ändert sich wenig. Zwar nimmt das Umweltbewusstsein laut Studien des Bundesumweltamtes zu, die Forderungen nach Transformation werden lauter, aber die Litanei um den „Standortfaktor Deutschland“, die Rede vom Wettbewerb, die Notwendigkeit weiteren Wachstums gelten als selbstverständlich und alternativlos. Dann muss der Kapitalismus eben grün werden. Die Sozialwissenschaften geben viele verschiedene, teilweise konträre Antworten auf diese komplexen Fragen. Eine davon ist, dass es uns an Visionen, an Utopien fehlt. Es bedarf des Mutes und der Phantasie, gegenwärtige Verhältnisse zu kritisieren und über diese hinaus zu denken. Der Glaube an Alternativlosigkeit ist lähmend und lässt vergessen, dass (mindestens) eine andere Welt möglich ist. Dieses Motto des Weltsozialforums, welches sich als kritische Gegeninstitution zum Weltwirtschaftsforum etabliert hat, versteht sich als Aufruf zur Suche nach Alternativen des Guten Lebens. Mit einer davon beschäftigt sich die europäische Degrowth-Bewegung: „Unter Degrowth oder Postwachstum verstehen wir eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält. Dafür ist eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt und ein umfassender kultureller Wandel notwendig.“ (www.degrowth.info). Projekte leben Utopie Zu den Grundpfeilern einer Postwachstumsökonomie zählen Regionalität, Entschleunigung, Ökologie, Demokratie in allen Bereichen sowie Suffizienz, d. h. auch ein Verzicht auf Konsum. Es besteht Konsens in der Bewegung darüber, dass Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch nicht entkoppelbar sind und es deshalb einer demokratischen gesellschaftlichen Transformation durch solidarische Findungsprozesse bedarf. In unzähligen Projekten und Experimenten beginnen Aktivist*innen der Bewegung, das zu leben, was sie sich für die gesamte Gesellschaft wünschen. Präfigurative Politik nennt man derartige Praxen, die Tatsachen schaffen, statt diese nur einzufordern. Umsonstläden, solidarische Landwirtschaft, nicht-kommerzielle Kleiderbörsen, Repair-Cafés sind nur einige Beispiele dafür. Reale Utopien nennt der Soziologe Erik Wright solche Projekte, die im Schoße der gegenwärtigen Gesellschaft umgesetzt werden, jedoch über sie hinausweisen und ihre Transformation vorbereiten. Vorstellungskraft und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit vermögen die Dämme von Unsicherheit und Apathie zu brechen. Wir brauchen also einen Sinn für das Utopische, um reale Veränderungen zu schaffen und uns über vorgebliche Sachzwänge hinwegzusetzen. Reale Utopien entstehen genau dann, wenn wir aus Thatchers Alternativlosigkeit aufbrechen, Morus’ utopischen Nicht-Ort zum Denken und Träumen nutzen, aber nicht verweilen, sondern die Welt bauen, die wir uns wünschen und dafür zu kämpfen bereit sind. Dorothea Schoppek
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Tipps zum lesen und aktiv werden:
Praxisbeispiele:
Erik Olin Wright (2017): Reale Utopien: Wege aus dem Kapitalismus, Suhrkamp Verlag
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