Leben mit Tablettenkarussell und Bewegungsmeldern

Immer mehr alte Menschen werden dement, sind aber körperlich noch zu einem selbständigen Leben in der Lage. Ist das möglich und machbar, und wenn ja, wie? Unser Gastautor Anton Zahneisen berichtet über die letzten Jahre seiner dementen Mutter und wie ihr die Familie ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben erhalten konnte:


Foto: Africa Studio fotolia.com

 

Mit der Demenz meiner Mutter veränderte sich viel. Früher lebten in dem Mehrfamilienhaus inmitten der Stadt 16 Personen, zuletzt waren es vier, verteilt auf vier Etagen. Mein Vater starb vor zehn Jahren. Aber mit der Demenz lebte er wieder auf. Der Frühstückstisch wurde jeden Morgen für ihn mitgedeckt, ein Marmeladenbrot liebevoll geschmiert, Kaffee gekocht.

Es begann, als meine Mutter 88 Jahre alt war. Wir sitzen im Wohnzimmer, das Telefon läutet und meine Mutter schaut ratlos auf das klingelnde, schnurlose Gerät auf dem Wohnzimmertisch. Willst du nicht abnehmen, frage ich. Meine Mutter nimmt das Telefon in die Hand, dreht es und ist ratlos.

Weg, die Fähigkeit, ein modernes Telefon zu bedienen war einfach aus ihrem Wissensfundus gelöscht. Wir besorgten ein altes Telefon, mit Hörer und Tasten. Abheben, auf das Freizeichen warten, Nummer eingeben, Klingelzeichen abwarten, sprechen. Das alte Wissen war noch da.

Einiges klappte deshalb noch: Aufstehen, sich anziehen, Ordnung halten, die Haustür abschließen. Für vieles brauchte sie jedoch Hilfe und Unterstützung. Und der Unterstützungsbedarf nahm täglich ein bisschen zu.

Alleine wohnen – geht das gut?

Ja und nein. Ja, weil meine Schwester und ich viel getan haben, dass nichts passieren kann. Nein, weil ohne Präsenz helfender Hände die Versorgung nicht mehr sicher gewesen wäre. Viermal die Woche kam eine Hauswirtschafterin für drei Stunden. Sie räumte auf, putzte, kochte und aß zusammen mit unserer Mutter. Am Wochenende kümmerten wir uns selbst. Samstag war Badetag. Am Sonntag ging man zum Essen. An den übrigen Tagen kam „Essen auf Rädern“ und wir schauten, dass immer jemand da war und mit ihr aß. Die Nachbarin kümmerte sich ab und zu, die Schwester meiner Mutter kam vorbei und brachte immer etwas Zeit mit.

Wie verhindern, dass etwas passiert?

Einmal will unsere Mutter eine Klopapierrolle aufräumen. In der Abstellkammer steht noch die alte Mikrowelle, die sie schon lange nicht mehr bedienen kann. Gedankenlos öffnet sie das Gerät, legt die Rolle hinein, schließt es und drückt auf die richtige Taste. Meine Mutter macht die Tür zur Abstellkammer zu und nach wenigen Minuten fängt es an zu qualmen und zu brennen. Mit finanzieller Unterstützung der Pflegeversicherung hatten wir jedoch kurz zuvor ein umfassendes Technikpaket installiert, das für Sicherheit sorgen sollte. Dazu gehörten auch Rauchmelder, die direkt auf eine Notrufzentrale geschaltet sind. Nach wenigen Minuten sind Feuerwehr und Notarzt eingetroffen. Der Zugang zur Wohnung ist durch einen Schlüsseltresor neben der Haustür ohne Probleme möglich. Der Zugangscode wird durch die Notrufzentrale mitgeteilt. Der Brand wird gelöscht, meine Mutter beruhigt, wir Angehörige verständigt. Kurz darauf war in der Lokalzeitung von einem ähnlichen Fall zu lesen. Das Fazit dort: Die Seniorin tot, 500.000 Euro Sachschaden.

Ohne Technik wäre es nicht gegangen

Außer den Rauchmeldern gab es noch mehr: Ein Wassermelder sorgte dafür, dass austretendes Wasser im Bad erkannt und gemeldet worden wäre. Eine automatische Herd-abschaltung hätte zu große Hitze und Rauch erkannt. Ein automatisches Nachtlicht sorgte für Sicherheit auf dem Weg zur Toi-lette. Ein Tabletten-Karussell erinnerte an die Medikamenteneinnahme. Ein intelligenter Hausnotruf erkannte Bewegungslosigkeit und hätte selbständig die Notrufzentrale alarmiert. Wenn meine Mutter das Haus verließ, erhielt ich eine SMS, ebenso wenn sie zurückkehrte. Fünf Bewegungsmelder und ein Sensor an der Wohnungstür halfen uns, zu erkennen, ob alles in Ordnung ist. Vom eigenen PC aus konnte ich sehen, ob und seit wann die Wohnungstür geschlossen war oder wo die letzte Bewegung stattgefunden hat. Wir konnten aus der Ferne die Heizung steuern und unsere Mutter innerhalb und außerhalb der Wohnung anrufen, da ihr neues Notrufarmband wie ein Telefon genutzt werden konnte.

Kann man da noch ruhig schlafen?

Die Sorge um unsere Mutter war immer vorhanden. Meine Schwester und ich redeten viel miteinander und prüften regelmäßig, ob weitere Maßnahmen notwendig waren. Auch über Kameras in der Wohnung, also eine Art Videoüberwachung dachten wir nach, entschieden uns aber dagegen. Auch wenn meine Mutter dement war, verdiente sie doch unseren vollen Respekt und den Schutz ihrer Privatsphäre. Obwohl sie dieser Maßnahme sicher zugestimmt hätte – um unsere Unterstützung nicht zu verlieren, denn sie wusste, wie sehr sie uns braucht. Aus diesem Abhän-gigkeitsverhältnis wäre aber ein Machtmissbrauch geworden, der überdies noch die letzten Freunde und Nachbarn von ihren Besuchen abgehalten hätte.

War das Zuhausewohnen mit all dem Aufwand richtig? Wir meinen ja! Meine Mutter war in ihrer Wohnung 60 Jahre lang zuhause, fühlte sich daheim, kannte sich aus, hatte ihren eigenen Haushalt und einen selbst bestimmten Alltag. Ich erinnere mich, dass meine Mutter vor eineinhalb Jahren wegen Wohnungsrenovierung für vier Wochen bei ihrer Schwester wohnte, wo sie wie im Hotel umsorgt wurde. Aber das führte dazu, dass Kernkompetenzen verloren gingen, die danach wieder neu gelernt werden mussten: Spülmaschine und Waschmaschine bedienen, Kaffee kochen usw. Im Pflegeheim wäre es dasselbe gewesen.

Meine Mutter starb im Januar 2016, zuhause. Das war ihr Wunsch, der in ihrer Vorsorgevollmacht auch schriftlich dargelegt war. Noch am Vormittag ihres Sterbetages wollte die Ärztin sie ins Krankenhaus einweisen. Wir lehnten das ab. Sie starb daheim im Kreise ihrer Familie. Wir waren bei ihr und haben ihre Hand gehalten.

Anton Zahneisen